Berlin-Blockade - Zur Erholung nach Langenstein

Mitte Januar 1949 kommen sechs Kinder aus dem blockierten Berlin zur Erholung nach Langenstein. Die Kinder werden Familien zugeteilt und gehen im Ort in die Schule, für Großstadtkinder sicher eine aufregende und neue Erfahrung. Sie kehren, nach Aufhebung der sowjetischen Blockade, im Sommer nach Berlin zurück. Langlebige Freundschaften entwickeln sich aus diesem Aufenthalt, Kontakte bestehen bis heute. Zwei dieser Kinder blicken in ihren Briefen, die sie anlässlich der 800-Jahr-Feier nach Langenstein gesendet haben, auf diese Zeit zurück.

Brief von Ute Vogelsang:

Die Blockade West-Berlins durch die Sowjetunion in der Zeit vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 wirkte sich auch unmittelbar auf das kleine Dorf Langenstein, auf einige seiner dort tief verwurzelten Familien und auf Berliner Kinder aus. Das künftige Leben von 2 Berliner Mädchen, damals 8 Jahre alt, wurde nachhaltig geprägt von der Hilfsbereitschaft aller Langensteiner, insbesondere durch zwei Langensteinet Familien.

Wie konnte das geschehen?

Die Westalliierten versorgten Berlin auf dem Luftweg mit Lebensmitteln, Brennstoffen und anderen lebenswichtigen Gütern. Die Militärmaschinen flogen beladen in Berlin ein und leer zurück zu ihren jeweiligen Militärbasen. Als die Lage der Westberliner immer prekärer wurde und Kinder zu verhungern drohten, startete eine große Hilfsaktion im damaligen Westdeutschland, unterstützt insbesondere von den Engländern und Amerikanern, die sich bereit erklärten, in den leeren Militärmaschinen auf den Flügen zurück nach Westdeutschland Kinder herauszufliegen, wenn für diese geeignete Familien gefunden wurden, die bereit waren, diese Kinder auf unbestimmte Zeit aufzunehmen und für sie zu sorgen. Diese Kinder sollten bei den Gastfamilien. bleiben, bis die Blockade West-Berlins beendet ist. in Langenstein erklärten sich mehrere Familien bereit, jeweils ein Kind aufzunehmen. Neben anderen flog eine Militärmaschine mit Kindern Mitte Januar 1949 zunächst nach Lübeck. Von dort wurden die Kinder in ganz Westdeutschland verteilt. Drei Mädchen landeten schließlich in Marburg an der Lahn, kamen dann nach Kirchhain und endlich ins Dorf Langenstein – immer begleitet von einer Schwester des Deutschen Roten Kreuzes. Die notdürftigen Koffer wurden vom damaligen Gemeinde-Diener in einem kleinen Leiterwagen zu Fuß von Kirchhain nach Langenstein gebracht. Hier saßen die drei Mädchen nun völlig übermüdet aber auch aufgeregt in der Küche des damaligen Bürgermeisters Kornmann. Ich — Ute -war eines dieser Mädchen und kam zur Familie von Margarete und Heinrich Knack, die ihren kleinen Bauernhof gleich neben dem Haus des Bürgermeisters hatten. Ein auf dem Hof gesichteter Gänserich beunruhigte mich zwar ein wenig, aber der inzwischen mit dem Gepäck eingetroffene Gemeindediener geleitete mich sicher in das Haus von „Hahns“, wie die Familie im Dorf genannt wurde. Das zweite Mädchen — Ingrid — kam. wenige Häuser weiter hoch im Dorf ebenfalls zu einer Familie Knack (Julius und Marta Knack, im Dorf „Schoofs“ genannt. Das dritte Mädchen kam auf einen großen Bauernhof, „Wirts“ genannt.

Nach wenigen Tagen brachten uns unsere Gasteltern in die Schule in Langenstein und es stellte sich heraus, dass im Dorf insgesamt sechs Kinder aus West-Berlin aufgenommen wurden, nämlich außer uns Mädchen auch noch drei Jungen, die etwas älter waren und vermutlich alle auf größeren Bauernhöfen lebten.

Ich bin mit so viel Fürsorge und Liebe bei Hahns aufgenommen worden, dass ich mich nicht erinnern kann, viel Heimweh gehabt zu haben. Im Hause lebten noch die erwachsenen Kinder von Heinrich und Margarete, Hans und Marta. Eine weitere Tochter, Elisabeth, war verheiratet mit Konrad Henkel, der die Dorfschmiede betrieb. Tochter Marta heiratete wenige Monat später Johannes Mann. Ich erwähne dies so ausführlich, weil meine Zeit in Langenstein als kleines 8 jähriges Mädchen sich rundum glücklich nicht nur bei den Hahns abspielte, sondern auch bei Manns und Henkels wurde ich wie ein Familienmitglied begrüßt. Die Blockade endete am 12. Mai 1949, aber es sollte noch einige Wochen dauern, ehe die Kinder-Rücktransporte nach Berlin organisiert werden konnten. Ich glaube, im Juli 1949 ging es dann zurück nach Berlin.

Mein ganzes weiteres Leben bis heute—ich bin inzwischen 82 Jahre alt—wurde und ist geprägt durch Langenstein und die Menschen, die mich damals ohne Wenn und Aber aufgenommen haben. Der Kontakt ist nie abgebrochen. Die Kinder und Enkel — inzwischen natürlich alle erwachsen — sind zu meiner zweiten Familie geworden, auch wenn keiner von ihnen mehr in Langenstein lebt, aber immerhin in Hessen sind sie geblieben. Die ursprünglichen Gast-Eltern und deren Kinder sind inzwischen verstorben, sind aber für immer fest in meinem Herzen. Die Kontakte zu den Kindern von Marta und Hannes sind in all den Jahren immer eng gewesen. Für mehrere Jahre hat Martin — einer meiner Söhne — bei Marta und Hannes gelebt und deren Kinder sind zu Schwester und Bruder für ihn geworden.

Ingrid, das Mädchen, das 1949 bei den „Schoofs“ lebte, hat ebenfalls bis heute zu den Nachfahren von Julius und Marta Knack engen Kontakt.

So gesehen, war die Blockade West-Berlins — so schrecklich sie für viele Menschen war — für mich ein Segen und ist eng mit Langenstein verbunden.

Brief von Ingrid Tammler: