Langenstein und der schwarze Tod

Im Jahr 750/779 überträgt ein Graf(?) Argoz dem von Bonifatius gegründeten Kloster Fulda den dritten Teil seines Besitzes in Nezzaha (unser heutiges Hof Netz). Damit beginnt die uns überlieferte Siedlungsgeschichte des Gebiets um Langenstein und Netzbachtal. Das weitere Schicksal von Nezzaha ist schnell erzählt: 1118/1137 erwirbt das Erzstift Mainz von einem Adligen mit Namen Hugo ein Gut zu Nezzehe und 1248 bezieht das Erzstift Abgaben aus Nethtphe, die nach Amöneburg zu leisten waren. Erst 1577 haben wir wieder Nachricht: Der Hof der Netzmöhlen steht dem Deutschordens-Rentmeister zu (weiteres: s. u., 5. Netz, Hof; zit.: Netz, Hof, Landkreis Marburg-Biedenkopf“, in: Historisches Ortslexikon (https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/ol/id/9243). Die zeitlichen Lücken bis 1248 lassen sich zwanglos erklären: Entweder gab es nichts, was schriftlich festgehalten werden musste oder, eher unwahrscheinlich, etwaige Nachrichten sind verlorengegangen.

Nach 1248, wann genau ist unbekannt, wurde der Ort Netz aufgegeben, erst 1577 haben wir erneut Nachricht von Netz, den Charakter eines Dorfs hat es aber nicht wieder angenommen. Die Erstnennung 750/779 von Nezzaha fällt zusammen mit dem Wiedereinsetzen der schriftlichen Überlieferung Anfang des 8. Jahrhunderts für das Gebiet zwischen Rothaargebirge und Thüringer Wald, eine Region, die als das Kernland der Chatten gilt. Nicht zuletzt zur Sicherung gegen die feindlichen Sachsen wurde damals von den fränkischen Königen im nord- und mittelhessischen Raum ein umfangreicher Landesausbau durch Ansiedlung bäuerlicher Bevölkerung betrieben. Dieser Vorgang des Landesausbaus mit Rodung, Besiedlung, Gründung von Städten, Dörfern und Klöstern hat das Gesicht unseres Landes bis heute nachhaltig geprägt, gegen Mitte des 13. Jahrhunderts kam es zu einem allmählichen Stillstand.
Für den engeren Raum um Langenstein und Netzbachtal, also östlich von Werkloh (dem heutigen Kirchhain) lassen sich bis ins 12. Jahrhundert keine Siedlungsplätze sicher nachweisen. Nach der Erstnennung sortieren sich für unseren Betrachtungsraum in chronologischer Reihung nach Erstnennung die Siedlungsneugründungen wie folgt:
Auffällig ist auch ein vergleichbarer Akt Friedrichs II. 20 Jahre früher, der die Bedeutung und den Rang der heilig gesprochenen Landgräfin nachdrücklich unterstreicht. Zwei Tage nach seiner Königskrönung am 25. Juli 1215 in Aachen, verfügte Friedrich, die Gebeine Karls des Großen in einen vergoldeten und reich geschmückten Silberschrein (ähnlich dem Elisabethschrein) zu überführen, eine mit Marburg vergleichbare Inszenierung also. Dabei „… ergriff der König selbst einen Hammer, legte seinen Mantel ab, bestieg mit einem Handwerker das Gerüst und nagelte mit dem Meister zusammen vor aller Augen das Behältnis fest zu.“(aus Reiner von Lüttich, Annalen)
  • Netz, (Erstnennung) 750/779 – (Letztnennung) 1248
  • Langenstein, 1135/1223, ununterbrochen bis heute
  1. Obernhain 1150/1160 – 1388 (wohl schon seit 1375)
  2. Herbach, um 1248 – vor 1326
  3. Münchhausen, um 1248 – vor 1486 (nach 1364)
  4. Heimersdorf, um 1248 – vor 1456 (nach 1324)
  5. Bechtmannshausen, 1272 – Ende 14., Anfang 15 Jh.
  6. Leiterstede, 1282 – vor 1478 (nach 1363)
  7. Elmsdorf, 1310 – (durchgängig) bis nach 1561; 1340 scheint die Siedlung nur aus zwei, seit 1380 nur aus einem Hof bestanden zu haben. Wüstung nach 1561.
  8. Giffendorf, 1358 – vor 1425 (nach 1385)
Klammern wir mal (Hof) Netz aus, so haben wir östlich vom heutigen Kirchhain neun Siedlungsplätze – davon mit Obernhain eine gesicherte Siedlung aus dem 12. Jahrhundert und, indirekt erschließbar, mit Langenstein eine zweite Siedlung, ebenfalls 12. Jahrhundert. Die restlichen sieben Orte verteilen sich auf den Zeitraum von ca. 1248 bis 1358. Damit liegen Rodung und Besiedlung unseres Gebietes zeitlich ganz am Ende der Landesausbauphase. Da im Zuge des Landesausbaus die ertragreichen, guten Böden als erste „unter den Pflug genommen“ wurden, kann man den Schluss ziehen, dass zur damaligen Zeit unser Gebiet von der Bodengüte her eher als Grenzertragsboden galt. Erstnennung ist nicht unbedingt Siedlungsbeginn, aber ihre Häufung zur Mitte des 13. Jahrhunderts fällt schon auf und lässt auf planvolles Handeln schließen.
In obiger Aufstellung sind die Letztnennungen bzw. der vermutliche Zeitpunkt der Siedlungsaufgabe vermerkt. Den Vorgang der Siedlungsaufgabe nennt man Wüstwerdung, den ehemaligen Siedlungsplatz Wüstung. Allgemein verstehen wir unter Wüstung eine aufgegebene Siedlung, an die nur noch Urkunden, Flurnamen, Reste im Boden und Ruinen, ggf. örtliche mündliche Überlieferungen erinnern. Zeitlich bewegen wir uns dabei im Mittelalter (und früher Neuzeit), aufgegebene vorgeschichtliche oder antike Siedlungen werden nicht als Wüstung bezeichnet. Wüstwerdungen bereits im hohen Mittelalter sind eher selten (Herbach?). Von den Wüstungen um Langenstein herum ist heutzutage nichts mehr zu erkennen, sie stellen im 21. Jahrhundert nur noch die Herausforderung dar, sich statt Wiesen und Äcker hochmittelalterliche bäuerliche Anwesen vorzustellen. Das Problem mit dem Vorstellen ist nur: Wir wissen äußerst wenig über den profanen Hausbau der Zeit vor 1300. Erhalten geblieben ist nichts, was vor allem an der damaligen Bauweise und den verwendeten Materialien liegt. Gebaut wurde mit Holz und Lehm, Gebäude aus Stein waren entweder herrscherliche oder kirchliche Bauten. Die typischen Bauten zur (land-)wirtschaftlichen Nutzung erfolgten in Pfostenbauweise über Gruben von durchschnittlich ca. 1,50 Meter Tiefe. Es wurde auch schon in Fachwerkbauweise mit eingetieften Sockelfundamenten gebaut. Sockelmäuerchen aus Bruchstein o. ä. als Feuchtigkeitssperre gab es nicht. Die Pfosten steckten im Erdreich und waren so bereits nach wenigen Jahrzehnten durchgefault, der Bau musste dann komplett erneuert werden. Mit sehr viel Glück finden die Archäologen noch Pfostenlöcher oder Nachweise von Schwellenbalken im Erdreich, erkennbar an charakteristischen Verfärbungen. Sie können so wenigstens Aussagen über Größe, Grundriss und Aufteilung der durchweg einstöckigen Gebäude treffen. Auch zur Ortsgröße lassen sich aufgrund der Fund- und Überlieferungslage nur selten genauere Erkenntnisse gewinnen, die Zahl der Gehöfte dürfte aber in den meisten Fällen im einstelligen Bereich gelegen haben.
2018 waren in Hessen 3508 Wüstungen im Landesgeschichtlichen Informationssystem (LAGIS) erfasst. Darauf basierend ergibt sich als vorsichtige Hochrechnung für ganz Deutschland eine Anzahl von mindestens 40 000 Wüstungen. Die in Hessen sehr gut dokumentierten Wüstungen verteilen sich eher ungleich. Im Norden wurden geschätzt mehr als die Hälfte aller früh- und hochmittelalterlichen Siedlungsgründungen im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts wüst, in den Hochlagen des Westerwaldes, des Burgwaldes und des Reinhardswaldes bis 68%. Dagegen beträgt die Zahl der Wüstungen in der Wetterau und im Limburger Raum mit ihren durchschnittlich besseren Böden nur einen Bruchteil der nordhessischen Befunde. Generelle Ursachen für Wüstwerdung im späten Mittelalter waren in erster Linie Fehlsiedlungen, d.h. sie trugen sich wirtschaftlich nicht. Gründe dafür waren z. B. zu wenig Ackerfläche oder zu schlechter Boden, fortgesetzte Missernten, Bevölkerungsschwund durch Pest und andere Epidemien, sowie eine allmähliche Bildung größerer Siedlungseinheiten. Das sog. „Bauernlegen“ (= der Grundherr übernimmt die Bodenbewirtschaftung in Eigenregie) war eher typisch für das ausgehende Mittelalter und die frühe Neuzeit (auch ursächlich für die damaligen Bauernkriege).
Das Wüstwerden der Siedlungsplätze um Langenstein lässt sich in etwa dem Zeitraum Mitte des 14. bis Anfang des 15. Jahrhunderts zuordnen. Der vergleichsweise schlechte Boden bei einem Nachlassen der Nachfrage kann für unseren Raum als Hauptursache des Siedlungssterbens angenommen werden. Das Langensteiner Gebiet unterscheidet sich von daher nicht von anderen vergleichbaren Gegenden Mitteleuropas. Nachdenklich macht aber das abrupte und fast vollständige Ende der Besiedlung an Netzbach und unterer Klein (Gleen).
In den folgenden Generationen nach Friedrich von Langenstein, den Bürgen für den Erzbischof von Mainz 1223, finden wir (mindestens) drei gleichnamige Ritter sowie vermutlich den Ritter Rudolf von Langenstein als mainzische Burgmannen auf der Amöneburg. Friederich von Langenstein und sein Bruder Johannes führen als Siegelbild einen roten Hirsch im weißen Feld (1345 bzw. 1358). Mit dem Tode Friederichs (1357) verschwindet der Ortsadel in Langenstein.(E. Müller, Langenstein, S. 187). Neben dem anzunehmenden biologischen Aussterben derer von Langenstein dürfte auch der Bedeutungsverlust Langensteins, verursacht durch den allgemeinen Bevölkerungsrückgang, als Ursache für das Fehlen einer ortsansässigen Adelsfamilie anzunehmen sein.
Damit kann man das Wüstwerden bäuerlicher Siedlungen in unserem Bereich zeitlich und von der Sache her in Bezug zu der wohl größten Katastrophe des Mittelalters, dem Wüten des „Schwarzen Todes“ setzen. Als „Schwarzer Tod“ wird die Pest bezeichnet, eine der verheerendsten Pandemien der Weltgeschichte, die in Europa zwischen 1346 und 1353 geschätzt 25 Millionen Todesopfer – ein Drittel der damaligen Bevölkerung – forderte. Andere Schätzungen gehen bis 60%. (R. D. Gerste, in: Ärzte-Zeitung 30.08.2004). Die Übertragung des Erregers, ein Bakterium mit Namen Yersinia pestis, erfolgt mit dem Zwischenwirt Flöhe von Ratten oder anderen Nagetieren auf den Menschen. Gelangt er, z. B. durch einen Flohbiss, in die Blutbahn des Menschen kommt es zur Anschwellung der Lymphgefäße (Beulenpest), gelangt er durch die Atemluft in die Lunge, entwickelt sich die Lungenpest. Nach wenigen Tagen tritt dann der Tod ein. Pestepidemien hatte es schon in der Antike gegeben, Europa war aber jahrhundertelang verschont geblieben. Noch vor Mitte des 14. Jahrhunderts gelangten erste Nachrichten aus Asien nach Europa, dass eine schreckliche Seuche mit Ursprung in China ganze Landstriche Asiens entvölkert habe. Nachdem sie zuerst auf der Krim, dann in Konstantinopel auftrat, erreichte sie 1347 die Hafenstädte am nördlichen Mittelmeer. Marseille ordnete für alle Neuankömmlinge eine vierzigtägige (französisch: quarantaine de jours) Isolation an. Unser heutiger Begriff Quarantäne leitet sich davon ab. Vom nördlichen Mittelmeer breitete sie sich entlang der Handelswege über ganz Europa aus, nur wenige Landstriche blieben verschont. 1356 wurden Frankfurt a. M. und Hessen erstmals von der Pest heimgesucht. Ob, und wenn ja, in welchem Maße, die Pest auch in Langenstein und den umliegenden Weilern wütete, wissen wir nicht. Da die Pest sich vor allem entlang der Handelswege ausbreitete und Kirchhain wie auch Langenstein an bedeutenden Handelswegen lagen, kann man es aber nicht von der Hand weisen. Zeitgenössische Berichte dazu oder wenigstens kurze Notizen für unseren Raum fehlen völlig. Aufzeichnungen aus anderen Gebieten geben aber detaillierte Auskünfte über das Ausmaß des Schreckens, sodass wir uns auch für unsere Gegend ein eine ungefähre Vorstellung machen können.
Die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman hat in ihrem Buch „Der ferne Spiegel“ diese Endzeitkatastrophe in ein wortgewaltiges, eindrucksvolles Kapitel zusammengefasst, aus dem ich hier in zwei Auszügen zitiere (S. 97ff.):
„Als die Friedhöfe überfüllt waren, begann man in Avignon, die Leichen in
die Rhone zu werfen, bis man schließlich zu Massenbestattungen in großen
Gruben überging. Überall starben die Kranken schneller, als die Gesunden
sie begraben konnten. Die Leichname wurden vor die Häuser geworfen, und
das erste Licht des Morgens enthüllte neue Leichenberge in den Straßen. In
Florenz sammelte die Compagnia della Misericordia die Toten ein. Die Mitglieder
dieser 1244 gegründeten Vereinigung waren in rote Gewänder gekleidet, sie
trugen rote Hüte und eine rote Gesichtsmaske, die nur die Augen frei ließ.
Konnten auch sie die Zahl der Todesopfer nicht mehr bewältigen, so lagen
die Leichen tagelang stinkend in den Straßen. Bald waren auch keine Särge
mehr zu bekommen, und die sterblichen Überreste der Menschen wurden
nur noch in Massengräber geschleift, in denen sie zum Teil von den
Familienmitgliedern selbst so notdürftig verscharrt wurden, »dass Hunde die
Leichen hervorzogen und auffraßen«.
Unter dem Eindruck der sich häufenden Todesfälle und der Furcht vor Ansteckung
starben die Menschen ohne Letzte Ölung und wurden ohne Gebet begraben,
eine Aussicht, die die letzten Stunden der Kranken verdüsterte. In England
erlaubte ein Bischof auch Laien, die Beichte zu hören, und wenn »kein Mann
zugegen war, dann eben eine Frau«, und wenn kein Priester erreichbar war,
dann »musste die Kraft des Glaubens helfen«. Papst Klemens VI. sah sich
gezwungen, für alle Seuchenopfer eine Generalabsolution zu erteilen, weil die
meisten ohne kirchlichen Beistand ins Grab gesunken waren.
»Und keine Totenglocke ertönte«, schrieb der Chronist von Siena, »niemand
wurde beweint, weil alle den Tod erwarteten . . . Die Menschen sagten und
glaubten: »Das ist das Ende der Welt.«
(….)
In abgeschlossenen Lebensräumen wie Klöstern und Gefängnissen bedeutete
der erste Seuchentote in aller Regel die Vernichtung aller, wie in den
Franziskanerklöstem von Carcassonne und Marseille, wo alle Mönche starben.
Von 140 Dominikanern in Montpellier überlebten nur sieben. Petrarcas (neben Dante
der berühmteste Dichter des mittelalterlichen Italien) Bruder Gherardo, ein
Kartäusermönch, beerdigte, einen nach dem anderen, 34 seiner Klosterbrüder und
auch noch den Prior. Nachdem nur noch er und sein Hund übriggeblieben waren,
machte er sich auf die Suche nach einem Zufluchtsort. Angesichts täglich
zunehmender Pestopfer rätselten die Überlebenden, ob Gott die Luft mit der
Krankheit verseucht hatte, um die menschliche Rasse auszulöschen.
Im irischen Kilkenny blieb der Bettelmönch John Clyn allein unter den toten Brüdern
zurück. Er schrieb eine Chronik dessen, was geschehen war, damit »nicht wichtige Dinge
mit der Zeit verschwinden und der Vorstellung unserer Nachkommen fremd bleiben«.
Er glaubte, dass »die ganze Welt, so wie sie war, in der Hand des Bösen lag«.
Während er selbst auf den Tod wartete, schrieb er: »Ich hinterlasse Pergament,
um die Arbeit fortzusetzen, und wenn nur ein einziger Nachkomme Adams diese Pest
überlebt, soll er die Arbeit weiterführen, die ich begann.« Bruder John, so notierte
eine unbekannte Hand, starb an der Pest, aber er entrann dem Vergessen.“
Doch die Pest war nicht die einzige Heimsuchung, die über Europa kam. Hungersnöte traten vor allem in den Jahren 1315 bis 1317 in dichter Folge auf. 1338 kam es zu Einfällen riesiger Heuschreckenschwärme: „do kamen so vil häuschrecken geflogen von Ungarn durch Österreich und durch Paiern auf über den Sand den Main ab gegen den Rein, daz so vil getraides verderbte auf dem veld, daz manich gäuman verdarb.“ Nach Konrad von Megenbergs Worten (zit. nach https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Heuschreckeneinfälle) kann man davon ausgehen, dass auch Hessen (und damit Langenstein) nicht verschont geblieben ist. Und um das Maß voll zu machen, ereignete sich Januar 1348 ein verheerendes Erdbeben der Stärke 7 (geschätzt) mit Zentrum in Kärnten und einer Bebenzone Richtung Nord, die in etwa von der Pfalz über Prag bis Ungarn reichte und damit sicher auch in Hessen noch spürbar war. Die Menschen reagierten auf diese Katastrophen mit Angst und Panik, die Krise wanderte in die Köpfe. Geißler, auch Flagellanten genannt, zogen jetzt durch ganz Europa. Als Buße für eigene Sünden und die der Menschheit peitschten sie sich selbst (oder sich gegenseitig) blutig, um so Vergebung vor Gott zu erlangen. Nahezu zeitgleich kam es zu einer ersten großen Welle von Judenverfolgungen und Pogromen. Man warf den Juden vor, durch Brunnenvergiften Urheber der Pestepidemie zu sein. Von den mehr als dreihundert jüdischen Gemeinden fielen etwa zwei Drittel dieser Verfolgungswelle zum Opfer. Die Zahl der Toten ist nicht abzuschätzen.
Heuschreckenschwärme, Pest, Judenpogrome und Geißlerzüge: Den Zeitgenossen haben sich diese Katastrophen, die später als Kennzeichen einer Krise gelten sollen, tief eingeprägt. Die Chroniken sind voll davon.
Diese Erscheinungen sind auch nicht spurlos an der Kirche vorbeigegangen. Die inneren Brüche und Verwerfungen, das Schisma, die Erfolge der neuen Orden, die Ketzer, … dies alles mündete in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in die Konzilsbewegung. Einer ihrer hervorragendsten Vertreter war Heinrich von Langenstein.

Weitere Entwicklungen und Folgen

Mit allmählich nachlassender Intensität grassierte die Pest nach dieser ersten und verheerendsten Epidemie in Europa jahrhundertelang in wiederkehrenden Wellen. Die letzten Pestepidemien trafen Europa im 18. Jahrhundert. Aus Sorge vor einem Ausbruch auch in Berlin ließ Preußenkönig Friedrich I. dort ein Pesthaus errichten, aus dem die Charité hervorging. In China gab es die letzte Pestepidemie im 19. Jahrhundert.
Um 1340, also vor der Pest, lebten auf dem Gebiet des späteren Deutschland geschätzt 14 Millionen Menschen, der (geschätzte) krisenbedingte Rückgang von bis zu 60% war erst Ende des 15. Jahrhunderts wieder ausgeglichen. Trotzdem kamen Wiederbesiedlung von Wüstungen oder Neugründung unter gleichem Namen nur sehr selten vor. Insoweit überrascht es nicht, dass keiner unserer wüst gewordenen Siedlungsplätze wieder aufgebaut worden ist, mit Ausnahme von Hof Netz, das aber auch nur ein Hof geblieben ist.
Hauptursache für die ausgebliebene Wiederbelebung war ein Wandel in der landwirtschaftlichen Produktionsweise um 1400. Bis dahin war das Hausrind mittels Joch das hauptsächliche Zug- und Arbeitstier, ab 1400 verdrängte das Pferd den Ochsen in dieser Funktion. Das Pferd mit dem Kummet als Zuggeschirr war nicht nur stärker, sondern, in unserem Zusammenhang entscheidend, es war auch schneller. So konnten, im Vergleich zu früher, vom heimatlichen Hof aus weiter entfernt liegende Anbauflächen erreicht werden. Dazu kam auch noch die Egge mit ihren eisernen Zinken, die die Bodenbearbeitung verbesserte und beschleunigte. Die Folge war, dass die Größe der Dörfer, mehr noch die der überwiegend agrarisch geprägten Städte, wie auch die Fläche des bewirtschafteten Landes, deutlich zunahmen, die Zahl der Städte und Dörfer hingegen in etwa gleich blieb.
Die langfristigen Folgen der Pest für das Bewusstsein der Menschen, die Entwicklung der Gesellschaft und den weiteren Gang der Geschichte können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dies zu erörtern wäre schon interessant, geht aber doch über unser Thema hinaus. Einen Schritt weiter geht der österreichische Schriftsteller und Universalgelehrte Egon Friedell: (Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 63) „… wagen wir nun die Behauptung aufzustellen: das Konzeptionsjahr (Ursprungsjahr) des Menschen der Neuzeit war das Jahr 1348, das Jahr der „schwarzen Pest“.

Und nicht die Entdeckung Amerikas!