Flüchtlinge in Langenstein

Mit den „wilden Vertreibungen“ in den letzten Kriegsmonaten kommen die ersten Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen ins Dorf. Seit 1946 verstärkt sich der Zuzug von Heimatvertriebenen. Eisenbahntransporte aus der Tschechoslowakei bringen Familien in die amerikanische Besatzungszone. Die Menschen müssen ihr Hab und Gut zurücklassen, sind meist nur mit dem Notdürftigsten ausgestattet, haben oft schreckliche Verfolgungen hinter sich und stehen nun in den fremden Orten vor dem Nichts. An den Bahnhöfen werden sie von den Einheimischen in Empfang genommen und dann weiter auf die Einwohner verteilt. Rund 290 Flüchtlinge, vorwiegend aus dem Sudetenland, werden in Langenstein untergebracht. Am Beispiel einer Familie und ihrem späteren Heim am Stiegelsberg, wird das Schicksal der Vertriebenen in Langenstein exemplarisch vorgestellt.
Das Haus Nr. 5 am Stiegelsberg – ein Haus mit einer besonderen Geschichte. Erbaut wird es im Jahr 1960, durch eine Familie, die von weit her nach Langenstein gekommen ist. Vier Personen, Adolf Karger, sein Sohn Erhard Karger und dessen Schwester Auguste Czech geb. Karger mit Ehemann, vertrieben aus dem Sudetenland im Kreis Römerstadt, kommen mit den Flüchtlingstransporten 1946 hier an. Zunächst werden sie wie viele andere Familien getrennt und in unterschiedlichen Unterkünften einquartiert. Sie leben dort unter engsten Verhältnissen. Nachdem Frau Czech in 1948 ihren Ehemann auf dem Langensteiner Friedhof begraben musste, ergibt es sich, dass sie mit ihrem Bruder und Neffen in der Erksdorfer Straße 4 bei Witwe Schmitt endlich eine gemeinsame Unterkunft finden. Aus der Zwangseinweisung entwickelt sich eine Freundschaft und es entsteht eine Art Ersatzfamilie. Mit Mitteln aus dem Lastenausgleichsfonds gelingt es ihnen ein Haus zu bauen, damals Haus Nummer 190. Leider erlebt der schwerkranke Neffe Erhard, den Einzug ins neue Haus nicht mehr. Auch er wird auf dem Langensteiner Friedhof bestattet.
Letztendlich findet so eine Flüchtlingsfamilie in Langenstein eine andere Heimat, die „Czechtante“ wird zur „Drittoma“ und das Haus verbleibt im erweiterten Familienverbund – eine Erfolgsgeschichte, die sich in den Zeiten der schrecklichen Vertreibungen keiner vorstellen konnte.
Aber – wie kommt diese Familie nach Langenstein? Dem voraus geht die Politik des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Mit dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs im März 1938 und der Eroberung Polens ab dem 01.09.39 beginnen die Zwangsumsiedlungen im Osten. Der deutsche „Generalplan Ost“ sieht vor, die slawische Bevölkerung nach Sibirien abzudrängen und so „Lebensraum“ für das „Deutsche Volk“ zu schaffen. Davon betroffen ist die ansässige Bevölkerung, insbesondere die Polen, die durch die Ansiedlung von deutschstämmigen Personen verdrängt werden sollen. Zu diesen großen Bevölkerungsbewegungen gehören auch die in den durch Deutschland besetzten Gebieten zwangsweise rekrutierten Arbeiterinnen und Arbeiter.
Mit Kriegsende und dem Vorrücken der Roten Armee kommen die ersten großen Flüchtlingstrecks aus Ost- und Westpreußen nach Hessen. Radikale und brutale Vertreibungen östlich der Oder-Neiße-Grenze und der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei setzen Flüchtlingsströme in Gang. Diese „wilden Vertreibungen“ im März/Juni bis zum Oktober/Dezember 1945 betreffen Hunderttausende. Innerhalb einer Stunde müssen Deutsche ihre Häuser verlassen; ihr Eigentum wird konfisziert, sie werden ausgeplündert und müssen sich in Internierungslager begeben; auf diesen Elendsmärschen ohne Lebensmittel und medizinischer Versorgung sterben Tausende.
Im Juli 1945 verhandeln die drei großen Siegermächte, USA, Großbritannien, Sowjetunion, in Potsdam über die Zukunft Deutschlands und auch über den sog. „Bevölkerungstransfer“, der „in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ erfolgen soll. Es wird ein grober Zahlenrahmen festgelegt, der später präzisiert werden soll. Polen, Tschechoslowakei und die Sowjetunion wünschen eine radikale „Säuberung“ Osteuropas von der deutschstämmigen Bevölkerung. Die Westmächte, USA und Großbritannien, stimmen dem zu. Von den 6,65 Millionen betroffenen Menschen sollen 2,75 in die sowjetische, 2,25 Mio. in die amerikanische, 1,5 Mio. in die britische und 150000 in die französische Zone gebracht werden. Diese planmäßige „Umsiedlung“ startet im Januar 1946 und beendet die Phase der „wilden Vertreibungen“. Hatten bei Kriegsbeginn 18,3 Millionen Deutsche und Deutschstämmige ihren Wohnsitz in den deutschen Ostgebieten, den osteuropäischen Staaten und der Sowjetunion, so werden 12,45 Menschen in den vier Besatzungszonen aufgenommen. 2,22 Millionen Menschen sterben, 3,34 Millionen bleiben in den Vertreibungsgebieten zurück.
Seit dem Spätwinter 1945/46 nimmt das am 01.12.1945 neu gegründete Land Hessen 400000 Menschen aus der Tschechoslowakei und Ungarn auf. Bis zum Gründungsjahr der Bundesrepublik (1949) werden es 650 000 Flüchtlinge und 200 000 Evakuierte. Von den 4,3 Millionen Landeseinwohnern ist dann jeder sechste ein Flüchtling oder ein Vertriebener.
11 Flüchtlingstransporte kommen in der Zeit vom Februar bis September 1946 mit rund 10000 Menschen im Kreis Marburg-Kirchhain an. In der amerikanischen Besatzungszone, in der Langenstein liegt, werden sehr früh durch die amerikanische Besatzungsmacht regionale Vertreter und Behörden beauftragt. Nach dem Verständnis der Siegermächte ist die Versorgung und Eingliederung der Flüchtlinge eine ausschließlich deutsche Aufgabe. Seit dem Herbst 1945 beraten die Bürgermeister bei ihren Dienstversammlungen, wie die Aufnahme und Verteilung durchzuführen sind. Lange Züge mit Viehwaggons kommen im Bahnhof Marburg an. Hilfsorganisationen wie das DRK versorgen die Menschen erstmals mit Nahrung und Getränken, ein Amtsarzt leistet medizinische Hilfe. Von hier aus geht es weiter nach Kirchhain. Die Bürgermeister oder Vertreter nehmen am Bahnhof die Menschengruppen für ihre Dörfer in Empfang und verteilen sie auf die Familien im Dorf. Nach Langenstein kommen 149 Sudetendeutsche, 91 Schlesier, 28 Ostpreußen, 8 Westpreußen, 2 aus Polen und 11 aus Siebenbürgen. Aus der sowjetisch besetzten Ostzone fliehen weitere 13 nach Langenstein, sodass insgesamt 293 Menschen im Ort Zuflucht suchen.
Das Zusammenleben stellt eine große Herausforderung an diese Schicksalsgemeinschaft: 280 Neubürger müssen von rund 900 Alteingesessenen in einer Zeit großer Not mitversorgt werden. Räumliche Enge prägt den Alltag; im Wald wird Brennholz zusammengesucht; Bauern stellen ihre Gespanne zur Verfügung, um Holz ins Dorf zu bringen. Auf die Nachricht hin, dass in den ehemaligen Lagern in Allendorf eiserne Bettgestelle und Spinde vorhanden sind, organisiert der Langensteiner Bürgermeister einen Transport, um so einfachste Möbelstücke für die Neuankömmlinge zu beschaffen, denn es fehlt an allem. Gartenland wird von Einheimischen abgegeben, damit die Flüchtlinge zur Eigenversorgung Obst, Gemüse und Kartoffeln anbauen können. Der Caritasverband und das Evangelische Hilfswerk verteilen amerikanische Spenden. Schon bald organisieren sich die Flüchtlinge in Heimatverbänden und werden durch gewählte Flüchtlingsvertreter im Gemeinderat vertreten.
Wie der Alltag aussieht, beschreibt eine Schülerinnenarbeit aus dem Jahre 1959/60 sehr anschaulich. Heidemarie Grünwald, Klasse 10a, hat auf der Grundlage der Einwohnermeldekartei und Befragung einzelner Flüchtlinge eine großartige Jahresarbeit verfasst.
Katholische Familien leben nun in der bis dahin protestantischen Gemeinde. Der evangelische Pfarrer öffnet das Gotteshaus für alle Christen, gemeinsam wird die Kirche genutzt, es wechseln sich Weihnachtsfeiern im katholischen und protestantischen Ritus ab und man lädt sich gegenseitig zu den Festtagen ein. 1947 wird in der Gastwirtschaft Schneider/ Reerersch für die Kinder ein großes Weihnachtsfest durch die Gemeinde veranstaltet. Kirchhainer Geschäftsleute stiften Spielzeug oder sonstige Dinge, die ein Kinderherz erfreut; sogar ein Nikolaus bringt Äpfel und Plätzchen für alle. Weitere Feste im Jahresverlauf versuchen ein Stück Normalität in den schwierigen Nachkriegsalltag zu bringen. Es gibt Faschingsfeiern für alle Kinder im Dorf mit dem Höhepunkt eines Kuchenwettessens. Die Heimatvertriebenen veranstalten in einem Pferdestall einen „bunten Abend“, bei dem ein Flüchtlingsmädchen gekonnt mit der Ziehharmonika zum Tanz aufspielt. Neben einigen Volksliedern werden auch andere zahlreiche Gesangsstücke angestimmt und vorgetragen. Die Fröhlichkeit und Geselligkeit des einen bunten Abend lassen noch viele weitere Abende, nun im Saal der Gastwirtschaft, folgen. Alle Einheimischen zahlen einen Eintritt. Dieses Geld fließt in eine „Notkasse“, einem durch die Flüchtlinge organisiertem Unterstützungssystem, mit dem den Bedürftigsten geholfen werden soll. 1951 wird in Kirchhain der „Tag der Heimat“ mit einem Festzug begangen; die Langensteiner Gruppe besteht aus Flüchtlingen und Dorfkindern. Sie treten als gemeinsam Gruppe auf, die Mädchen bunt geschmückt mit Blumen und Schmetterlingen aus Krepppapier.
In Langenstein fehlen Arbeitsplätze, deshalb ziehen viele Flüchtlinge in Städte und andere Regionen weg besonders nach der Währungsreform. Für die ausgebildeten Flüchtlinge gibt es keine Möglichkeit in ihren angestammten Berufen im Ort zu arbeiten. Die Arbeit in den landwirtschaftlichen Betrieben und in den Steinbrüchen bietet keine Perspektive. Mit Schneidern und Stricken halten sich die Frauen über Wasser, aber der weite Anmarschweg, um in städtischen Betrieben zu arbeiten, zwingt die Männer zum Verlassen des Ortes. Wie Heidemarie Grünwald schreibt, gibt es keinen Bus oder Bahnhof in Langenstein: Um nach Frankfurt bzw. Darmstadt oder ins Ruhrgebiet zu gelangen, sind die Wege zu weit. Die Flüchtlinge wandern in die Städte und Industrieregionen ab; in der Zeit von 1951 bis 1955 gehen die meisten. So verlassen im Jahr 1951 58 Personen den Ort, 1952 sind es 38, 1953 sind es 48, 1954 20, 1955 37. In sechs Fällen heiraten junge Männer in ortsansässige Familien ein, in zwei anderen Fällen heiraten Flüchtlingsfrauen einheimische Männer. Als sogenannte Beigefreite, finden sie damit im Haus der Schwiegerfamilien eine Unterkunft. Wie viele letztlich bleiben, ist schwer zu ermitteln. Die Arbeit von Heidemarie Grünwald (vorhanden im Dorfarchiv), geht von 22 Familien aus.
Insgesamt betrachtet haben sich die Flüchtlinge in Langenstein im Laufe der Jahre in ihrer neuen Heimat eingelebt, wenn es bestimmt manchen nicht leichtgefallen ist. Viele der Flüchtlinge treten in die Tanzgruppe, den Kirchenchor und den Männergesangverein ein und gestalten das Dorfleben mit. Das Haus Nr.5 am Stiegelsberg zeigt dies beispielhaft.
Quellen:
  • Jahresarbeit aus dem Jahre 1959/60 von Heidemarie Grünwald, Klasse 10a
  • Rolf Messerschmidt. Flüchtlinge und Vertriebene im Landkreis Marburg-Biedenkopf: Ursachen, Aufnahme, Eingliederung. Marburg 1989