Die Jakobskirche im Wandel der Zeiten

Ein kleiner Rundgang

Viele Kirchen sind kultur- und kunstgeschichtlich bedeutsame Räume. Darüber hinaus bezeugen sie über oft viele Generationen den Glauben unserer Vorfahren. Das ist auch bei der evangelischen Jakobskirche der Fall: Sie ist ein bedeutendes Kulturdenkmal und Zeugin des Glaubens der Menschen in Langenstein über rund ein Jahrtausend vom Mittelalter bis in unsere Tage.

Ich möchte Sie zu einem kleinen geschichtlichen Rundgang einladen.

Kirchgarten

Wir beginnen den Rundgang unter der imposanten Dorflinde. Linker Hand befindet sich der Lange Stein, der wie das Gotteshaus nach Osten ausgerichtet ist und in gewisser Weise als religiöser Vorgänger der Jakobskirche gelten kann. Wir betreten den Kirchgarten, der gänzlich von einer historischen Wehrmauer umgeben ist, durch eine tonnengewölbte Torhalle aus dem 16. Jh.

Abb. 1: Torhalle
Abb. 2: Kräutergarten
Wir gehen den Weg aus Sandsteinplatten und betrachten zu unserer Linken einen Kräutergarten, der 2009 im Stil mittelalterlicher Klostergärten angelegt worden ist. Das gemauerte Zentrum des Gartens erinnert der Form nach an eine Jakobsmuschel und damit an den Namensgeber der Kirche.

Der Weg führt an der Südseite der Kirche vorbei. Wir betreten die Kirche noch nicht, sondern gehen weiter bis zu einem kleineren Tor, das die Hintergasse mit dem Kirchgarten verbindet. Der Kirchgarten ist in den letzten Jahrzehnten zu einem parkähnlichen Ort mit großen, Schatten spendenden Bäumen und zahlreichen Sitzgelegenheiten verwandelt worden, der Pilger, Besucher und Bewohner zum Verweilen einlädt, aber auch öfter für Gottesdienste und musikalische Veranstaltungen genutzt wird.

Auf der Rückseite der Kirche sind in den 1950er Jahren Grabmale in einem Kreis aufgestellt worden, darunter ein Kreuzstein von 1625. Der Kirchgarten wurde bis 1888 als Friedhof genutzt.

Abb. 3: Grabsteine
Abb. 3: Reliefs

Vom Tor aus haben wir die fensterlose Nordseite der Kirche im Blick, bei der ein vermauertes Portal auffällt. Die Form des Portals, das einst dem gegenüberliegenden Zugangsportal entsprach, ist einer der Hinweise darauf, dass der Kern der Kirche in der romanischen Epoche entstanden ist.

An der Westwand der Kirche stechen seltsame Reliefbilder ins Auge. Deren Deutung ist bis heute strittig. Zu erkennen sind zwei Fratzen (eine davon an der Nordwestecke), die vermutlich eine Unheil abwehrende Funktion hatten. Noch schwieriger ist die Deutung der menschlichen Gestalt (der Heilige Jakob als Pilger oder ein Leprakranker mit Krücke und verkürzten Beinen?) sowie der Tiere. Auch die Deutung des Sterns ist unsicher (ein Sonnensymbol oder das Wappenschild des Grafen von Waldeck?).

Eine mittelalterliche Pilgerkirche

Wir betreten die Kirche durch ein kleines Portal und befinden uns in einem leicht gedrungen wirkenden, mit Holzbänken und einer großen Empore ausgestatteten Raum. Denken wir uns alle hölzernen Einrichtungsgegenstände weg, haben wir in etwa die romanische Hallenkirche vor Augen, die die Gläubigen im Mittelalter besucht haben. Säulenbasen im romanischen Stil legen nahe, dass der Bau schon einen gewölbten Chorraum besaß. Die Fenster waren vermutlich noch mit Rundbögen gestaltet und entsprechend kleiner. Wann dieser mittelalterliche Bau entstanden ist, lässt sich nicht genau sagen. In alten Quellen ist für das Jahr 1323 eine „Pfarrkirche“ in Langenstein bezeugt. Eine andere alte Überlieferung weiß von einer Kirchweihe im Jahr 1387. Es gibt aber Berichte über Ausgrabungen, die schon für das 11. Jh. eine Kapelle an der jetzigen Stelle erwähnen. Eine Dokumentation dieser Ausgrabungen konnte aber nicht ermittelt werden. Auch die Frage, ob es einen noch älteren Vorgängerbau in direkter Nähe zum Langen Stein gab, lässt sich nicht klären, da für entsprechende Ausgrabungen eine sichere Quelle fehlt.

Entscheidender ist es vielleicht, sich die religionsgeschichtlichen Rahmenbedingungen für eine Jakobskirche seit dem 11. Jahrhundert bewusst zu machen. Wir wissen zwar nicht, in welcher Zeit die Kirche Jakobus dem Älteren, einem der zwölf Apostel, geweiht worden ist. Aber grundsätzlich sind Namensgebungen historisch stabil. Jakobus galt als Schutzpatron u.a. der Pilger. Im 11. Jh. wird Santiago de Compostela, wo sein Grab verortet wird, zu dem Wallfahrtsort. Spätestens in dieser Zeit wird Langenstein auch zu einem Schnittpunkt wichtiger Fernhandelswege, und es liegt nahe, dass sich der Ort an einem der weitverzweigten Arme des mittelalterlichen Jakobspilgerwegs befand. Auch die seltsamen Reliefbilder an der Westwand deuten darauf hin, dass die Jakobskirche eine mittelalterliche Pilgerkirche war. Es erscheint also durchaus plausibel, die Anfänge des Kirchbaus schon im 11. Jh. zu vermuten. Der Deutsche Orden, der im 14 Jh. die Patronatsrechte für die Kirche erwarb, weist ebenfalls einen Bezug zum „Ritterheiligen“ Jakobus auf. Möglich wäre deshalb auch, die Namensgebung erst in diese Zeit zu datieren.

Die spätgotische Jakobskirche

Wir gehen gen Osten durch einen Bogen in den Chorraum, dem Herzstück der Kirche. Eine Inschrift mit dem Hinweis „Anno Domini 1522“ belegt, dass die Kirche im 15./16. Jh. im spätgotischen Stil eine tiefgreifende Neugestaltung erfahren hat, die offensichtlich 1522 vollendet wurde. Das dabei geschaffene Netzgewölbe mit einem doppelten Rippensystem, wobei das untere farblich abgehoben ist und scheinbar frei im Raum schwebt, ist ein architektonisches Meisterwerk – und eine Rarität. Etwas Vergleichbares gibt es in Deutschland nur noch in zwei weiteren Kirchen: im Salvatorchor der Frankfurter St. Leonhardt-Kirche und in der Schlosskirche zu Meisenheim am Glan. Die Frage, warum eine so aufwändige Architektur in einer kleinen Dorfkirche geschaffen wurde, kann derzeit nicht befriedigend beantwortet werden.

Stellen wir uns vor, wir stünden nach Fertigstellung der spätgotischen Jakobskirche im Jahre 1522 im Chorraum. Viele Teile der jetzigen Ausstattung wären immer noch nicht vorhanden: Etwa die Kanzel, die Orgelempore und die festen Sitzbänke. Andererseits gäbe es manche Details zu entdecken, die mit der mittelalterlichen Abendmahlspraxis verbunden waren und heute keine Funktion mehr haben: Etwa an der Nordseite eine Tabernakelnische, in der die geweihten Hostien aufbewahrt wurden. Die mit einem romanischen Bogen versehene Nische links davon gab möglicherweise einer Heiligenfigur Raum. Die quadratische Öffnung an der Südseite war wohl ein mittelalterliches Pestfenster, das Kranken die visuelle Teilnahme an der Kommunion ermöglichte.   

Nicht nur der Chorraum wurde in dieser Zeit mit aufwendigen Malerarbeiten versehen. Auch das Kirchenschiff wurde großzügig bedacht. Erhalten sind die Weihekreuze an der Südseite, die darauf hinweisen, dass die Kirche nach katholischem Ritus geweiht wurde. Weitere Malereien an der Nord- und Westseite, wobei es sich um farbige figürliche Darstellungen handelt (s.u.), sind bei der Kirchenrenovierung 2005 entdeckt worden. Ihre Rekonstruktion wäre allerdings sehr aufwändig.

Wir beenden den Rundgang und werfen einen Blick auf die weitere Geschichte der nunmehr evangelischen Jakobskirche.

Abb. 4: Netzgewölbe

Die Jakobskirche wird evangelisch

Nur wenige Jahre nach Fertigstellung der spätgotischen Jakobskirche wurde Langenstein evangelisch.

Schon 1521 hatte Luther auf dem Rückweg vom Reichstag in Worms in Hersfeld Station gemacht und gepredigt. Landgraf Philipp von Marburg war ein früher Anhänger der neuen Lehre und führte 1526 auf der Homberger Synode die „Reformation der Kirchen Hessens“ ein. Zu den sichtbarsten Veränderungen gehörten sicherlich der Gottesdienst in deutscher Sprache und die Eheerlaubnis für Personen geistlichen Standes. Für einzelne Orte ist belegt, dass die evangelische Lehre schon in den Jahren zuvor das hessische Land erreicht hatte. Dies dürfte auch für Langenstein gelten. Ein Brief der „ganzen Gemeinde Langenstein an den Landgrafen“ vom Mai 1526 bezeugt einen Streit zwischen der Gemeinde und dem Pfarrer wegen der Versorgung seiner Familie mit dem sogenannten Sendhafer. Die Gemeinde wollte wohl nur den Pfarrer, aber nicht die ganze Familie versorgen, woraufhin der Pfarrer der Gemeinde das Abendmahl verweigert hatte. Der Brief legt nahe, dass der in Kirchhain wohnende und für Langenstein verantwortliche „Pfarrer Johan Girnant“ schon kurze Zeit vor 1526 mit seiner aus Treysa stammenden Frau und seinen Kindern der erste evangelische Pfarrer in Langenstein war.   

Durch die Einführung der Reformation entstand in der Region ein konfessioneller Flickenteppich. 1491 war Langenstein von Mainz nach Hessen übergegangen. Andere Dörfer, etwa das nahe gelegene Emsdorf, blieben weiterhin bei Mainz. Der Gegensatz von evangelischen und katholischen Dörfern blieb bis weit ins 20. Jh. prägend, so dass Trauungen über die Konfessionsgrenzen hinweg erst in den letzten Jahrzehnten ihren Makel verloren haben.

In der Jakobskirche hat sich durch den neuen Glauben vermutlich zunächst nicht viel verändert. Die vorreformatorischen Gebäude wurden in der Regel übernommen, der Gottesdienst aber in deutscher Sprache und das Abendmahl in beiderlei Gestalt gefeiert, außerdem gewann der Gemeindegesang an Bedeutung.

1605 verfügte Landgraf Moritz, ein glühender Anhänger der reformierten Konfession, so genannte „Verbesserungspunkte“. Einer dieser Punkte besagte, dass nach dem biblischen Bilderverbot alle Bilder aus den Kirchen zu entfernen seien. 1606 erzwingt er für die gesamte Landgrafschaft einen Bekenntniswechsel. Auch die Jakobskirche dürfte von diesem „Bildersturm“ betroffen gewesen sein. Jedenfalls heißt es in einer Amöneburger Chronik, der Langensteiner Pfarrer habe Darstellungen des hl. Jakobus, der hl. Anna und des hl. Christopherus übertüncht – möglicherweise die kaum noch sichtbaren figürlichen Darstellungen unter der Empore. Nach dem Tod des Landgrafen wird Langenstein 1624 wieder lutherisch.

Die Jakobskirche in der Barockzeit

Luther hatte über den Gottesdienst gesagt, dass darin „nichts anderes … geschehe, als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang“. Diesem theologischen Programm gemäß wurde die Jakobskirche in der Barockzeit in ihrem Inneren tiefgreifend verändert. Emporen wurden an der West- und Nordseite und sogar im Chorraum unterhalb des Netzgewölbes eingebaut. In der kleinen Dorfkirche konnten somit etwa 180 Menschen Platz finden und der Predigt lauschen. Dabei wurde eine Kanzel, Herzstück des evangelischen Predigtgottesdienstes, zentral am Übergang zwischen Chorraum und Kirchenschiff platziert, so dass jeder den Prediger sehen konnte. Bilder, Schmuck und vor allem eine vielfältige Kirchenmusik waren mit der lutherischen Lehre bestens vereinbar. Und so wurde es in der Jakobskirche (wieder) bunt und prächtig. Die Emporen wurden mit Darstellungen der Apostel und biblischer Szenen in ländlich-bäuerlichem Stil bemalt, auch die barocke Kanzel ist reich verziert und bemalt. Spätestens mit der Empore ist sicher auch eine Orgel in die Kirche gekommen (die jetzige Friese-Orgel aus der Mitte des 19. Jh. hatte sicher schon eine Vorgängerin), mit der die Kirchenlieder von Luther, Paul Gerhardt und anderen begleitet werden konnten. Aus der Barockzeit stammt schließlich auch der Haubendachreiter, der den Kirchturm bis heute schmückt.

Spätere Renovierungen dienten vor allem der Rekonstruktion der spätgotischen Hauptbauphase der Jakobskirche. So wurde in den 1950er Jahren die Empore im Chorraum entfernt, die Orgelempore dafür verbreitert, die Kanzel in das Kirchenschiff versetzt und die Wandmalereien unter 11 Farbschichten rekonstruiert. 

So sind in der Jakobskirche bis heute Spuren von etwa 1000 Jahren Kunst- und Glaubensgeschichte zu entdecken. Als „Pilgerkirche“ am Jakobusweg und (seit 2007) am Elisabethpfad gelegen, zieht sie zahlreiche Pilger und Besucher an. Vor allem aber ist sie für die Menschen vor Ort ein Kleinod, das es zu bewahren gilt.

Abb. 5: Kanzel